Babo und Lora
Barbara Saladin
Einmal packte Babo ihren Rucksack und da fiel ihr ihr Taschenspiegel
in die Hände. Sie hatte ihn nur für Notfälle mitgenommen. Man weiss ja
nie, hatte sie gedacht, als sie ihn einpackte.
Und dann hatte sie ihn vergessen. Was sah man denn schon darin?
Ihre wirren Haare, die grossen Ohren und die dunklen Augen. Das war
nichts Besonderes.
Nicht wie Lora, die mit ihren blonden Locken und grossen, blauen
Augen alle verzauberte.
Sie hat so wunderbares seidiges Haar! Und schau dir ihre Augen an,
wie der Himmel! Das hörte sie jeden Tag.
Vater liess ihr mehr durch.
Wenn Lora einen Streich gespielt hatte und Vater sie streng ansah,
dann schaute Lora so lange bis über Vaters Gesicht ein Lächeln
huschte.
Na, ja..., sagte er dann milde, dass mir das nicht mehr vorkommt!
Babo zog er schon mal an den Ohren oder packte sie fest am Arm.
Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?
Babo überlegte. Doch es kam ihr nichts in den Sinn, denn sie hatte sich
gar nichts gedacht.
Da zuckte sie mit den Schultern... und Vaters Griff wurde wie Eisen.
Und dann nichts dabei denken! Merk dir eins:
Zuerst denken und dann handeln! Verstanden!
Er gab ihr einen Klaps.
Babo machte, dass sie fortkam.
Aber das “Zuerst-denken-und-dann-handeln“ funktionierte bei ihr
einfach nicht. Es kam ihr etwas in den Sinn, und schon machte sie es.
Wo hätte sie da noch denken können...
Sie hatte sich immer Brüder gewünscht. Sie stellte sich vor, was für
wilde Spiele sie miteinander ausheckten. Velorennen, Fussball und auf
Bäume klettern...
Lora war zu schön für wilde Spiele. Sie schaute immer in den Spiegel.
Wollte nicht rot anlaufen oder schwitzen.
Das stört die Schönheit, meinte sie.
Manchmal war sie eifersüchtig auf Lora. Sie wollte auch so schön sein.
Kämmte immer wieder ihre Haare vor dem Spiegel und versuchte, so
zu gucken wie Lora. So unschuldig mit weit aufgerissenen Augen, dass
man sie gerade beschützen wollte.
Doch das half auch nichts, denn es hiess immer nur:
Schau Lora an! Wie geschickt sie ist! Das kann nur Lora! Sie sieht aus
wie ein Engel!
Sie zog sich in sich zurück. Wollte dort finden, wie sie wirklich war, oder
jedenfalls etwas zum Liebhaben.
Sie hatte gelernt, ohne Honigworte auszukommen.
Den Spiegel warf sie weg. Der zeigte ja nicht sie!
Lora kaufte immer grössere Spiegel. Spiegel, in denen man sich ganz
und gar sah. Vor ihm verbrachte sie unendlich viel Zeit. Sie schminkte
sich stundenlang, probierte jeden Tag eine andere Frisur aus, übte dort
graziöse Gesten ein und sich biegsam und anmutig zu bewegen. Ihr
Auftritt sollte ein Ereignis sein!
So gehörten unzählige Komplimente und laute Ahs und Ohs bald zu
ihrem Alltag.
Babo dachte manchmal, es sei ihr tägliches Brot. Lora ernährte sich
tatsächlich von diesen süssen Worten. An Tagen ohne sie sah sie dünn
und hungrig aus. Doch sie verstand immer mehr, sich diese süssen
Brote auch zu holen! So sprach sie bald nur noch von ihrer Schönheit
und der Hässlichkeit der anderen.
Als Babo fortzog, umarmte sie sie, denn nun tat sie ihr leid.
Lora konnte einfach nicht ohne diese faden, langweiligen
Schmeicheleien leben. Sie sah gar nicht, wie die Natur um sie herum
herrlich war, das Glitzern der Sonne auf dem Wasser und das
unendliche Blau des Himmels…
Guck doch wieder mal aus dem Fenster!, sagte sie zum Abschied.
Doch Lora verstand sie nicht.
Ich dachte, du wirst mich vermissen!, quengelte sie.
Babo wollte nett sein.
Ja, klar... aber... da draussen... da ist die Welt! Und die ist schön...,
erklärte sie.
Lora schaute sie mit ihren weit aufgerissenen Unschuldsaugen an...
dann kam ein hastiges:
Ja, ja... sicher...
Sie umarmten sich.
Denk an mich!, sagte Lora.
Aber immer!, antwortete Babo.
Dann ging sie.